Zu Nachtwächters Zeiten

Wolfgang Diederich

 

In längst vergangenen Jahren prägte das Bild einer ländlichen Idylle das Aussehen unserer Dörfer. Verwinkelte Fachwerkhäuser überdachten teilweise die engen, schmutzigen Gassen und Strassen, die sich an ihnen vorbeischlängelten, Geräteschuppen und Ställe mischten sich in dieses bunte Panorama bäuerlicher Architektur. Haustiere waren die ständigen treuen Begleiter der Menschen, und vor den Häusern ruhte gelegentlich dampfend der Misthaufen. Im Schutz eines patrouillierenden Nachtwächters verbrachten die zumeist kinderreichen Familien die Nächte in ihren schmalen, niedrigen Kammern.

Es war dies die Zeit, als einer der letzten Nachtwächter in Briedel gemäß althergebrachter Sitte seine nächtliche Runde drehte. Wie immer schlenderte er mit seiner Laterne die Gassen entlang, sah überall nach dem Rechten, rief die Stunden aus und bummelte vergnügt in einer liedhaften Weise vor sich hin.

So erreichte er  gemächlich den Dorfplatz „Auf der Brücke“ zu Füßen seiner Wachstube im Eulenturm. Die Nacht hatte bereits ihren schwarzen Mantel über das Land gebreitet, und der Mondschein skizzierte die Silhouetten der umgebenden Dinge. Eine sanfte Stille ruhte im Dorf. Die Zeit schien friedvoll zu verrinnen, und frohen Mutes dachte der Nachtwächter an nichts Böses.

Doch plötzlich gewahrte er zu seinem größten Entsetzen ein Gespenst, welches sich in einem langen, weißen Hemd  merkwürdig auf einem Misthaufen herumbewegte.  Ein eisig schauriges Gefühl durchfuhr seine Glieder, und er glaubte von allen guten Geistern verlassen zu sein. Vor Angst und Schrecken wie gelähmt, starrte er auf die unsagbare Erscheinung, kalter Schweiß perlte sich auf seiner Stirn, und  er krächzte, von abergläubischen Anwandlungen und Mutmaßungen durchdrungen, in seiner Not mit zitternder Stimme: „Alle guten Geister loben Gott und den Herrn; was ist dein Begehren?“

Das Phantom, welches sich jedoch sogleich als ein friedlicher Anwohner bei einer allzu natürlichen Geschäftigkeit erwies, reagierte darauf lediglich grob mit der Aufforderung, nicht durch unliebsame und ungebetene Anwesenheit zu stören, indem es den Nachtwächter anfauchte: „Gieh wejda un loaß mich en Rooh schejße“.

 

Drucken