Die „Bombenattentäter“

Wolfgang Diederich

 

Es war im Spätsommer 1914, als die strotzenden Gebärden und Rivalitäten der imperialistischen Großmächte aus Anlass der Ermordung des österreichischen Thronfolgers, Erzherzogs Franz Ferdinand, am 28. Juni desselben Jahres in Sarajewo zur kriegerischen Auseinandersetzung geführt hatten. Die Völker dieser Nationen wurden propagandistisch gegeneinander aufgepeitscht und stürzten sich in hysterischer Euphorie in das verheerende Gemetzel. Sogar im frontfernen Hinterland waren die Menschen derart elektrisiert, dass sie argwöhnisch überall feindliche Machenschaften, Agenten und Saboteure vermuteten.

Zu dieser Zeit durchschnitt bereits die alte „Mosel- Kleinbahn“, die gegen Ende der Sechziger Jahre stillgelegt wurde, das „Peeres“ genannte, einst wald-, wiesen – und weidenreiche Gelände zwischen Briedel und Pünderich.
Die Bahnschwellen wurden häufig zweckentfremdet als Wanderweg benutzt.

So spazierte an einem schönen Spätsommertag in jenem Jahr ein junges Paar – die Dame unüblich mit Rock und leichtem Pullover bekleidet – die besagte Strecke entlang in Richtung Pünderich, während eine Einheimische unweit eines malerischen Wasserfalls ihr Tagewerk verrichtete und  neugierig die merkwürdige Garderobe der anderen, die die Körperformen in besonderer Weise abbildete, mit ihrer ländlichen Schürzentracht verglich. Kritisch beäugte die Frau das mysteriöse Pärchen, und ihr scharfer Verstand erkannte sogleich unter der falschen Maske der Tarnung die heimtückische Absicht in ihrem wahren Licht. Das Frauenzimmer konnte nämlich auf keinen Fall darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein mit Rock und Perücke verkleidetes, spionageverdächtiges Mannsbild handelte, das zwei Bomben am Oberkörper befestigt hatte  und mit seinem Spießgesellen das schändliche Unterfangen eines explosiven Attentats im Schilde führte. Das Ziel des Anschlages, so folgerte die gespannt beobachtende Bäuerin dank ihres logischen Eingebungsvermögens, konnte nur die Bahnlinie oder der an ihr gelegene Bahnhof in Pünderich sein, um den deutschen Schienenverkehr zur Westfront an einem offensichtlich neuralgischen Punkt entscheidend zu blockieren oder gar vorrübergehend lahm zulegen.

Ebenso schnell wie der Geistesblitz ihr Gehirn durchfuhr diese alarmierende Einsicht ihren gesamten Körper, was sie unwillkürlich zur wilden, panikartigen Flucht nach Briedel veranlasste, wo sie Land und Leute in Aufregung versetzte und vor allem einen ihrer Brüder aufgrund seiner besonderen vaterländischen Gesinnung völlig atemlos über das diabolische Geschehen unterrichtete.

Denn diesen wahren Patrioten hatte, als ihm während der Spritzarbeiten im Weinberg die Nachricht vom Ausbruch des Krieges zu Ohren gekommen war, eine solche Verzückung ergriffen, dass er unweigerlich das Spritzfass auslaufen ließ, um unter Vorspiegelung angeblich verrichteter Dinge sofort nach Hause zu eilen. Schließlich konnte er es keinesfalls hinnehmen, eventuell den triumphalen Augenblick des großen Sieges zu versäumen. Da er im Elternhaus jedoch keinen Einberufungsbefehl vorfand, plagte ihn schon die Ungeduld, und sein tapferes Herz quoll über vor Tatendrang. So erreichte ihn die Kunde, dass der Feind bereits im Hinterland subversive Operationen durchführte, gerade zur rechten Zeit, um seine treue Pflichterfüllung unter Beweis stellen zu können.

Unverzüglich besorgte er sich einen alten Drahtesel sowie eine Flinte und jagte wie Don Quichotte über die Landstrasse nach Pünderich. Mit rasendem Ungestüm brauste er durch die  Gassen der verschlafen wirkenden Ortschaft zum alten Bahnhof, an dem er sofort in diensteifriger Manier seine Gefechtsstellung bezog.

Unterdessen hatte sich das wehrfähige Briedeler Fußvolk mit Äxten, Sensen, Hacken, Dreschflegeln und Mistgabeln am Bahndamm versammelt, sprach sich gegenseitig Mut zu und begab sich auf den Kriegspfad. In geschlossener Kampfformation und Schlachtordnung marschierte die kühne Heldenschar eilig die Bahnschwellen entlang in Richtung Pünderich, um die Attentäter noch rechtzeitig im Handstreich zu überwältigen.

Furcht und Entsetzen befiehl die Einwohner von Pünderich, als sie die tobende, waffenstarrende Meute herannahen sahen. Ungeachtet aller Pündericher Zweifel und Skrupel stieß diese durch das Dorf bis zu jenem Bahnhof vor, wo man sich mit dem Vorposten zur geballten Schlagkraft vereinigte. In Erwartung des bevorstehenden Gefechts kundschaftete man mit äußerster Akribie die Gegend aus, stets darauf gefasst, unverhofft dem Feind von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Da sich jedoch nach Stunden unermüdlichen Patrouillierens keine Gelegenheit zur Attacke geboten hatte, schwoll den Streithähnen allmählich der Kamm ab, während sie sich  grimmigen Gemüts nach Hause trollten.

Nach geraumer Zeit wurde die Furore , welche die vermeintlichen Saboteure ausgelöst hatten, im umgebenden Moselblick publik. So stellte sich alsbald heraus, dass es sich bei den von sachkundiger Spionageabwehr observierten, konspirativen Individuen lediglich um harmlose junge Leute handelte, die vergnügt über den Bahndamm nach Pünderich spaziert waren, um die letzten herrlichen Tage einer  vorrübergehenden Zeit zu genießen und dort einzukehren.

Und die Bomben? Nun, ein vollbusiges Weib konnte mit der damals ungewohnten Kleidung eins dünnen, engen Pullovers durchaus den Eindruck eines „bombigen Biestes“ erwecken.

 

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